Victim blaming

Die Fesseln der Schuld und der Scham wiegen schwer. So schwer, dass sie, neben der Angst, viele Opfer verstummen lassen. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob einem die Fesseln von außen angelegt wurden, oder ob man sie sich selbst angelegt hat.

 

Victim blaming ist die englische Bezeichnung für die Täter-Opfer-Umkehr und beschreibt eine Strategie, die dem Opfer Schuld zuschreibt. Bspw. aufgrund des Verhaltens oder der Kleidung. Sowohl Nicht-Betroffene, Außenstehende als auch Täter:innen nutzen diese Strategie. Für Täter:innen ist es ein Werkzeug, um ihre Machtposition zu behaupten. Bei Nicht-Betroffenen und Außenstehenden entsteht victim blaming oft aus dem unterbewussten Bedürfnis heraus, das eigene Sicherheitsgefühl nicht hinterfragen zu wollen. Es erscheint unwahrscheinlicher, dass ihnen dasselbe zustößt, wenn sie sich anders/richtiger/besser verhalten und somit kein Verbrechen "auslösen".


 2 Beispiele von Abonnentinnen meiner Instagram-Seite


Gerade slutshaming (siehe Beispiele) ist sowas wie die Kreuzallergie des victim blamings. Aufgrund des Kleidungsstils wird häufig die Verantwortung bzw. der Auslöser der Tat beim Opfer gesucht. Der Satz:"Was hattest Du an?" ist in diesem Zusammenhang die wohl meist gestellte Frage.

Mädchen wird bereits in der Schule eine spezielle Kleiderordnung aufgezwungen, um die Jungs nicht "unnötig" zu provozieren. Statt also das Problem an der Wurzel zu packen und den Jungs beizubringen, dass sie übergriffig handeln, wenn sie Mädchen sexualisieren, wird das Problem verlagert. Ein "Männerproblem" wird so zu einem "Frauenproblem". 

Ja, in der Schule lege ich mich bewusst auf die Rolle der Mädchen, die sich an Kleidervorschriften zu halten haben und auf die Jungs, die übergriffig werden, fest, da es in Schulen in diesem Zusammenhang keine Kleidervorschriften für Jungs gibt.

 

Von victim blaming sind bei weitem aber nicht "nur" weiblich gelesene Personen (wgP) betroffen und es beschränkt sich auch nicht auf sexualisierte Übergriffe.

Männlich gelesene Personen (wgP) sind dem genau so ausgesetzt. Gerade in Verbindung mit der toxischen Männlichkeit. Auch vor Opfer von rassistischen Übergriffen macht victim blaming nicht halt. 

 

Aber gerade die Schuld und die Scham, die ein Opfer sich selbst zuschreibt, ist die Bleiernste von allen. Sie beißt sich fest, vergiftet jeden Gedanken, hält einen im Schweigen gefangen und hindert einen daran, zu verarbeiten, sich zu lösen und zu heilen. Während viele Opfer es schaffen, sich von der Schuld, die einem von außen zugetragen wird, zu distanzieren, sich den Schuh einfach nicht anzuziehen, erscheint es vielen eine unüberwindbare Hürde, die Schuld, die sie sich selbst zuschreiben, abzuschütteln.

 

Die Fragen, die sich Opfer häufig stellen:

 

Warum war ich so dumm?

Warum hab ich mich nicht gewehrt?

Warum hab ich nicht nein gesagt?

Warum hab ich es zugelassen?

Warum hab ich es nicht vorher bemerkt?

Warum habe ich ihn nicht angezeigt?

Warum war ich so unaufmerksam?

etc

 

Im Rahmen der (therapeutischen) Aufarbeitung gelingt es vielen Opfern, dass ihr Verstand versteht, dass sie absolut keine Schuld tragen. Niemals! Allerdings hinkt das Gefühl oft lange hinterher. Es dauert und bedarf viel Übung, bis das Gefühl genau so viel Verstand hat wie der Verstand.

 

Um das einmal ganz deutlich zu sagen: selbst wenn ich mich als Sexobjekt identifiziere, häufiger Sex und häufig wechselnde Sexualpartner:innen meine Lebenserfüllung sind und ich mit lediglich mit Zahnseide bekleide, habe ich jederzeit das Recht, etwas nicht zu wollen. Es besteht immer noch jederzeit das Recht auf Konsens. 

 

Ja, es ist (manchmal sogar überlebens)wichtig, Vorkehrungen zu treffen, so zynisch das auch klingt. Wie z.B. sein Getränk im Club im Auge zu behalten, sich nachts nach Hause begleiten zu lassen, bevor man sich mit einem Fremden trifft mit jemandem eine Zeitspanne verabreden, wann man sich meldet oder jemanden einen vorgetäuschten Notfallanruf machen zu lassen. Aber, wer keine dieser Vorkehrungen trifft, hat trotzdem keine Schuld, keine Verantwortung an dem, was passiert ist. Davon abgesehen, dass einem Vorsichtsmaßnahmen nicht garantieren, sicher zu sein. Da wären wir wieder bei dem oben erwähnten Sicherheitsgefühl. Denn auch Frauen, die sich nicht freizügig kleiden, werden vergewaltigt. Und auch Frauen, die gewisse Gegenden meiden werden sexualisiert und belästigt.

 

Also bitte lasst die Schuld da, wo sie hingehört. Bei den Täter:innen!

 

 


Vorschaubild von PublicDomainPictures auf Pixabay


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